Thüringische Landeszeitung

Schaxels Ohnmacht im Hochschulkonflikt 1923
Antrittsvorlesung des linken Juristen Korsch gewaltsam verhindert

Jena. (tlz-11.07.2001) Zwar zeigten sich Jenaer Studenten, trotz Astel- und Ibrahim-und Zehm-Debatten, an der Veranstaltungsreihe zur Geschichte ihrer Universität wiederum desinteressiert, aber immerhin beschäftigten sich diesmal zwei Studenten als Referenten mit einem Kapitel jener Geschichte: "Politisierte Modernisierung - Die Jenaer Universität im Thüringer Hochschulkonflikt" betitelten Oliver Lemuth und Jens Schütz ihre Darstellung des Widerstands der Salana gegen demokratische Bildungsreformen zu Beginn der Weimarer Republik, mit denen die geistige und personelle Erneuerung versucht wurde.

Unter dem SPD-Minister Max Greil, der sich als Vermittler zwischen Politik und Wissenschaft den Jenaer Julius Schaxel ins Volksbildungsministerium geholt hatte, sollten am Anfang der jungen demokratischen Republik Reformen in der überwiegend republikfeindlich gesinnten Hochschullandschaft durchgesetzt werden. Mehr Mitbestimmung, Bildung eines Allgemeinen Studentenausschusses, Volksschullehrerausbildung und eine eigenständige mathematisch-naturwissenschaftliche Fakultät. Aber sogar bei Letzterem, damals an Deutschlands Universitäten nichts Unübliches mehr, leisteten Jenaer Ordinarien erbitterten Widerstand.

Dabei war der Frontverlauf verworren: Der Historiker Alexander Cartellieri wetterte zwar gegen den "Ordinarienwahn", wandte sich aber auch gegen den politisch engagierten Wissenschaftler Schaxel, dessen Neubewertung, so die Referenten, noch aussteht. Nick Hopwood beschrieb 1997 "The Making of a Red Professor", wie vor 1933 Schaxels Feinde, nach 1945 selbsternannte Freunde ihn mit etlichen Retuschen zum "Roten Professor" stilisierten. Im Dezember 1923 beschloss die Universität, mit ihm als Regierungsvertreter an der Universität jeglichen Verkehr einzustellen. Jenas überdrüssig, kehrte Schaxel 1923 der Stadt den Rücken zu, ging für ein Forschungssemester nach Frankfurt/Main und begab sich anschließend auf Rußlandreisen.

Noch Dreisteres erlaubte sich die Universität bei Karl Korsch. Dieser war in Jena vom Juristen Heinrich Gerland "summa cum laude superato" promoviert worden, war ab Mai 1920 Privatdozent und wurde 1923 zum Professor für Zivil-, Prozeß- und Arbeitsrecht ernannt. Korsch war als undogmatischer Marxist B. Brechts Lehrer im Exil (1961 in den USA gestorben; in der DDR erschien keine Zeile von ihm und er wurde totgeschwiegen). Als er im Mai 1923 seine Arbeitsrecht-Antrittsvorlesung halten wollte, waren sich die feinen eine "unpolitische" , in Wirklichkeit die antidemokratische Wissenschaft verteidigenden Professoren und Studenten nicht zu schade, den Autor des 1922 erschienen "Arbeitsrecht für Betriebsräte" (1968 von der BRD-Metallergewerkschaft wieder aufgelegt) gewaltsam daran zu hindern, so daß er ins Volkshaus ausweichen mußte.


Lachs für arme Leute und was die Antifa mit vegetarischem Essen gemein hat

Manuela Linnemann/Claudia Schorcht (Hg.): Vegetarismus. Zur Geschichte und Zukunft einer Lebensweise. Harald-Fischer-Verlag, Erlangen. 166 Seiten, DM 32,-

(tlz-25.04.2001) Da den Bundestag beschäftigt, wer wann mit dem Außenminister gefrühstückt hat, bekenne ich, daß ich am 25. August 1982 zusammen mit „Joschka“ in einer Szenekneipe in Frankfurt am Main war – gehöre ich damit zu Fischers Verputzgruppe!? Weitere Skandale (BSE, Schweinedoping) lenken den Blick auf’s Essen. Fleischlos glücklich (TLZ vom 7. März)? In Jena gibt es vergessene Traditionen (das vegetarische Restaurant Zwätzengasse 16 war Tagungsort von Liebknechts Osterkonferenz 1916) und  gerade ist in Jenas Partnerstadt Erlangen ein Buch erschienen, das zeigt,  dass Vegetarismus kein Phänomen allein unserer Gegenwart ist: Einblicke in mehr als 2000 Jahre Diskussion moralischer, gesundheitlicher und ökologischer Argumente sowie Debatte über Gegenwart und Zukunft der vegetarischen Lebensweise.

Man erfährt, „daß Lachs im 19. Jahrhundert in Großbritannien ein Arme-Leute-Essen war und vertraglich geregelt wurde, daß Dienstboten maximal zweimal in der Woche Lachs bekamen“, und liest über eine kaum bekannte, jedoch vielleicht die effektivste Widerstandsgruppe der NS-Zeit, das „Internationale Sozialistische Komitee“ des an Schlaflosigkeit gestorbenen Philosophen Leonard Nelson. Das ISK, dem Vordenker der Nachkriegs-SPD entstammten, wirkte vor allem in Mitteldeutschland, verlangte von den Mitgliedern (ein Drittel Frauen!) Vegetarismus, Nikotin- und Alkoholabstinenz und bediente sich im antifaschistischen Widerstand des Netzes ab 1933 von ISK-Frauen errichteter vegetarischer Gaststätten.

Separatorenfleisch statt Tofu
oder: Wider "Mein Mampf"

Jena. (tlz-07.03.2001) Angenommen, Steven Jobs, der Gründer von Apple-Computer, und Jeremy Rifkin, der bekannteste Theoretiker der Internetwirtschaft, kämen nach Jena, um Intershop zu besuchen. Und sie wollten sich selber ein paar Nahrungsmittel kaufen. Dann sähen sie schnell die Grenzen der Boomtown Jena, denn beide sind Vegetarier. So wie einst Pythagoras, da Vinci, Benjamin Franklin, Voltaire, Tolstoi, Lord Byron, Schiller, Alexander von Humboldt, Richard Wagner, Franz Kafka, der Corn-Flakes-Erfinder John H. Kellogg oder - Adolf Hitler. Verordneter Antifaschismus wider A.H.´s "Mein Mampf" ist es nicht, wenn Vegetarier in Geschäften des Neufünfland-Leuchtturms Jena Schwierigkeiten haben. 

Lokaltermin Winzerla: Sogar die bisher im Sortiment enthaltene Gemüselasagne ist bei "Rewe" aus der Tiefkühltheke verschwunden und in keinem Geschäft ist Tofu, das vielseitig verwendbare Sojaprodukt, aufzutreiben: "Torfu - sowas haben wir nicht", meinte pikiert die Verkäuferin, in Gedanken offenbar bei den Torfballen ihrer Datsche. Hätte ich lieber nach "Separatorenfleisch" fragen sollen? Dieses "Restfleisch", das beim Schlachthof-Kettensägenmassaker von der Wirbelsäule abgetrennt wird, fast hätte es die Jury um den Germanisten Prof. Schlosser in Frankfurt/Main zum "Unwort des Jahres" 2000 erkoren.

 Aber sowas ist in Jena eher gesellschaftsfähig als die obskure Begierde nach Vegetarischem. Trotz BSE, das gerade zur Umbenennung des "Bundesverbandes des Schuh-Einzelhandels" führte und das bereits 1923 der Anthroposophiebegründer und Waldorfideologe Rudolf Steiner erahnte, wissend, was passiert, wenn Wiederkäuern, die seit Jahrtausenden Gras fressen, die pulverisierten Kadaver kranker Artgenossen in den Trog gekippt werden: "Wenn der Ochse direkt Fleisch fressen würde, würde er verrückt werden."

 Von Extrafaltblättern schauen mich Schweine mit zufriedenem Lächeln an, als entstammten sie einem Rosamunde-Pilcher-Roman und als sei ihr Ableben nur der Kollateralschaden eines Auffahrtunfalls des Einkaufswagens an der Fleischtheke.

 So verschieden sind die Esskulturen: Als in Japan der 1200. Todestag des Mönchs Jianzhen gefeiert wurde, kamen die Vertreter aller Tofu-Produzenten, um des großen Kulturübermittlers für das Mitbringen von Tofu und dessen Herstellungstechnik zu danken, ebenso wie dem Tofu-Erfinder, Fürst Liu aus der chinesischen Han-Dynastie. Der VR China wegen kann die Tofu-Ächtung hierzulande nicht als stalinistisches Relikt abqualifiziert werden. Selbst wenn die Solidarnosc-Bewegung 1980 die Gründung der Polnischen Vegetariergesellschaft und deren Registrierung ´81 mit sich brachte.

 Nach der Oktoberrevolution existierten in Rußland während der Zwanzigerjahre weiterhin vegetarische Restaurants, jedoch wurde 1929 die Tolstoi-Bewegung verboten. Noch 1927 erschien in Leningrad das Magazin "Hygiene der Ernährung" mit dem Untertitel "Organ der Wissenschaftlich-Hygienischen Vegetarischen Gesellschaft Leningrads". 1930 verschwand das Wort "vegetarisch" aus dem Titel. Der Dichter Wladimir Majakowski kämpfte gegen den Vegetarismus.

 Kurz vor dem 1. Weltkrieg hatte er einen Skandal in einem Moskauer vegetarischen Restaurant verursacht, Verse rezitierend, die Tolstois Lehren veralberten. 1928 schrieb Majakowski "Die Vegetarier", eine Parodie auf Tolstoianer mit dem Rat, vegetarisch-pazifistische Propaganda im Lande Chamberlains, nicht aber in der Sowjetunion zu betreiben. In seiner Autobiografie "Ich selbst" (1922/28) beschwerte er sich, dass er Vegetarisches zu sich nehmen musste, als er den Maler Repin besuchte ("für einen Futuristen von zwei Metern Länge nicht die geeignete Kost"). Nach seinem USA-Besuch schrieb er in "Meine Entdeckung Amerikas" 1925 über Chikago: "Ohne Fleisch kannst du nicht leben, und es hat keinen Sinn, mit Vegetarismus zu kokettieren - darum befindet sich direkt im Zentrum das blutige Herz, die Schlachthöfe." Über diese schrieb der Vegetarier Upton Sinclair Dokumentarromane, Bert Brecht ("Heilige Johanna der Schlachthöfe") inspirierend.

 Bleibt den Vegi-Bürgern dieser Stadt nur, sich sehnsüchtig jener Zeit zu erinnern, als in der Zwätzengasse 16 ein vegetarisches Restaurant Tagungsort von Karl Liebknechts Arbeiterjugend-Osterkonferenz 1916 war; als in Jena der Vegetarier-Guru und Vielweiberei-Prophet Friedrich Muck-Lamberty, der "Messias von Thüringen", mit seiner Jüngerschar 1920 eine Zuhörerschaft mobilisierte, die alle Säle sprengte - und dann einen bekannten Slogan aus nordrhein-westfälischem Wahlkampf zu variieren: "Zum Inder statt Rinder!"


Fährt Seefrachtfirma nun im Spaßbad vor?
Zum Schwimmbecken-Name „Galax Sea“ und  zu den galaktisch hohen Eintrittspreisen

Jena. (tlz-13.07.2001) So originell, wie er auf den ersten Blick erscheint, ist der geplante Name für das neue Bad in Winzerla nicht. Mancher mit Jenaer Originalitäten vertraute Beobachter erinnert sich vielleicht noch jenes in einem Wettbewerb prämierten und bejubelten Logos, das dann wegen auffälliger Ähnlichkeit mit einem später aufgetauchten Vorbild von der Stadt aus dem Verkehr gezogen wurde.

Ob es aufgrund von Markenschutz und Urheberrecht mit dem Denglisch-Titel „Galax Sea“ zu rechtlichen Verwicklungen kommen könnte, sei dahingestellt. Jedenfalls ist die Bezeichnung so einzigartig nicht. Es ist unwahrscheinlich, dass der Erfinder in der Bergstadt Galax im USA-Staat Virginia als Besucher des alljährlich im August stattfindenden Bluegrass-Musikfests im Meer (engl. Sea) gebadet hat und inspiriert wurde. Nicht abwegig ist die Annahme, dass der Werbefuzzy ganz „trendy“ einen Palm-Pilot als Organizer mit sich führt und dort beim Spiel „Galax“ (Version 2.2 vom 30. März 2001) ein brain storming veranstaltete, d.h. über griffige Bezeichnungen grübelt.

Was aber, wenn die französische Aktiengesellschaft Galax S.A. (Sea Customer Service) gegen die Verwechselung ihrer großen Seefrachtgesellschaft mit einem kleinen Stadtteilbad Bedenken anmeldet? Oder hatte der Werbetexter etwa seinen letzten Urlaub in Florida verbracht und mit der in Tampas beheimateten Firma Galax Sea Cruises eine Kreuzfahrt unternommen?

Vor Jahren sangen „Die Prinzen“ den Hit „Alles nur geklaut“. Vielleicht hat der „Erfinder“ auch nur die 1998 erschienene CD der 1996 in Montreal gegründeten Independent-Musikgruppe Marlowe in seine Stereoanlage eingelegt. Das Album heißt – Galax Sea. Was dazu wohl die Plattenfirma SNS sagt? Scratch’N Sniff bedeutet der Firmenname, und das kann man übersetzen mit „zusammenkratzen und Nase rümpfen“.

Galaktisch hohe Schwimmpreise

(tlz-6. März 2002 ) Willkommen in Jena - endlich verstehe ich, warum wir eine Zweitwohnsitzsteuer brauchen: Bürger die sich anderswo abnabeln und nur den Jena-Mief kennen, lassen sich besser regieren und schröpfen.

Dieser Tage flatterte nun das Werbefaltblatt des "Spaßbads" mit den galaktisch-hohen Preisen in den Briefkasten (natürlich rechtswidrig: trotz "Keine Werbung"-Aufkleber). Kein Scherz: Es war erst Anfang März, noch nicht der 1. April. Was GalaxSea bietet, kann verglichen werden mit dem "Panoramabad" in Frankfurt am Main. Schwimmen kostet dort für Erwachsene 2,50 €, für Kinder und Jugendliche 1,80 € (GalaxSex 11 bzw. 8 €, Wochenende sogar noch mehr!). Saunapreis 7,60 € (GalaxSea 14 €). Sogar im Vergleich mit Frankfurts Luxusbädern ist Jenas GalaxSea bezüglich der Preise einsamer Spitzenreiter! In den "Titus-Thermen" kostet Schwimmen 3,50 (Erwachsene) bzw. 2 € (Kinder), der Saunabesuch 5 €. Und vergleicht man das im Frankfurter Volksmund "Schwimmoper" genannte "Rebstockbad", zu dessen Eröffnung wegen der bundesdeutschen Einzigartigkeit immerhin das ZDF-Sportstudio aus dessen Hallen übertragen wurde, so kennt dieses zwar auch einen (in Klammern angegebenen) Wochenend-/Feiertagstarif, bleibt aber dennoch bei weitem billiger: Schwimmen kostet für Erwachsene 4 € (6,60 €), Kinder 1,80 (3,50 €), Sauna (10 €). 

Wird uns nicht immer erzählt, die niedrigen Verdienste in Thüringen wären dem im Vergleich zur Alt-BRD billigeren Lebensniveau geschuldet? Ich werde wohl mit Familie lieber mal einen Einkaufsbummel auf der Frankfurter Zeil mit dem Abtauchen in dortige Gewässer verbinden.


"Ich saß mit Biermanns Mutter im Konzert"
West-Unterstützer weiter unangepaßt

Jena. (tlz-16.11.2001) "Die BRD braucht eine KP / wie ich sie wachsen und reifen seh / unter Italiens Sonnenschein / so soll es sein, so wird es sein", sang Wolf Biermann im Konzert, dass zur Ausbürgerung heute vor 25 Jahren führte. Aus meinem Studienort Marburg angereist, erlebte ich in Köln Biermanns Sängerkrieg. Nebenan saß dessen Mutter aus Hamburg - DKP-Mitglied wie ich (Weihnachten wurde der Genossin seit 1919 in Sippenhaft die Einreise zu den Enkelkindern in Ostberlin verwehrt). Ich hoffte wie er in jener Liedzeile auf den "Eurokommunismus": Im Sinne Rosa Luxemburgs Sozialismus und Demokratie zu verbinden, versuchten sich vom Sowjetmodell abgrenzende KPen  in Italien, Frankreich oder Spanien mit Wahlerfolg. Ich kannte wie Biermann Licht- und Schattenseiten beider Teilstaaten. In jungen Jahren kam er aus Hamburg in die DDR, ich aus Eisenach in die BRD. Sein Konzert empfand ich als Auftritt eines kritischen Kommunisten. Insbesondere jene maoistische Kommunisten, zu denen Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer damals gehörte, beschuldigten Biermann in Köln in lange Debatten, die DDR zu sehr in Schutz zu nehmen! Entsprechend das Echo von rechts: "Wolf im Schafspelz" sei der Minnesänger des Minenstaats, dem CDU-Sprecher war Biermann ein "hartgesottener, linientreuer Kommunist" und "besonders wirkungsvolles Exemplar eines kommunistischen Agitprops", man protestierte (erfolgreich) gegen die Sendung im TV-Abendprogramm, um eine "Berieselung mit kommunistischer Ideologie" (CSU) zu vermeiden. "Die" DDR-Opposition gab es nicht, schrieb doch der damals in Ostberlin unter Hausarrest gestellte Robert Havemann im "Spiegel": "Für reaktionäre Renegaten vom Schlage eines Günter Zehm ist die ungenierte Kombination von Kritik und Bewunderung der DDR, die Wolf Biermann zustande bringt, zuviel für sein kaltes Krieger-Gehirn".
Als 3000 Marburger Studenten über das Rotkehlchen ohne Nest diskutierten, lag ein Protest Marburger-DKP-Mitglieder gegen die Ausbürgerung vor, den Biermann später auf seine Plattenhülle druckte. In Telefonaten mit dem Schriftsteller Günter Wallraff, der mit Heinrich Böll Biermann betreute (das Telefon, also auch Biermann, hörte ein BRD-Geheimdienst ab), wurde mein Auftritt für die KP-Opposition auf Biermanns Pressekonferenz am 19. November vereinbart. Viele West-Biermann-Protestanten haben sich unangepasst-kritischen Geist bewahrt: Diese Ex-DKPler aus Marburg findet man als Professor in Aix-en-Provence, als Staatssekretärin im Umweltministerium in Kiel, als Gewerkschaftsschulleiter in Nordrhein-Westfalen oder als Politik-Professor und Redakteur des Standesorgans deutscher Politikwissenschaft in Konstanz.  Über meinen Parteirausschmiß schrieb die "Frankfurter Allgemeine Zeitung", die Partei wollte "Ruhe vor einem Platzdasch, der seinen Ausschluß von ihm publizierten Hinweisen auf einen latenten Stalinismus in der DKP verdankt." Dennoch zeigte das Dezemberheft 1976 der später als aufmüpfig eingestellten DDR-Zeitung "Forum" auf der Titelseite meinen Artikel über neue NATO-Strategien direkt vor Peter Hacks' Beitrag "Neues von Biermann" an. Der Eurokommunismus starb, die Illusion über die trickreiche Ausbürgerung ebenfalls: Margot Honecker, während der NS-Illegalität beider Väter in Hamburg in der Biermann-Familie aufgewachsen, hatte ihn noch am Vorabend des Kölner Konzerts besucht. Als ich einst auf einer Wandzeitung in Marburg Jenaer Proteste öffentlich machte, ahnte ich nicht, dass es mich Ende 1990 dahin verschlagen würde.


Gedenken an einen theoretischen Ketzer an der Jenaer Universität
Gerhard Riege wählte vor 10 Jahren den Freitod

Jena. (tlz-27.02.2002) Ehrt man den Wissenschaftler und Politiker Gerhard Riege, der Meinungsstreit schätzte, angemessen mit Vorträgen ohne Diskussion? Manfred Weißbecker, Vorsitzender des Thüringer Forums, begründete diese Veranstaltungsform mit der Hoffnung, dass "das Zuhören Raum für Debatten in späteren Zusammenkünften schaffen kann". Raunen und Unruhe der Zuhörer bei vier unterschiedlichen Würdigungen Rieges, insbesondere beim Vortrag Olaf Werners, des Abwicklungsdekans der juristischen Fakultät nach der Wende, signalisierten Diskussionsbedarf. - Selten fand eine Veranstaltung im Haus auf der Mauer derart lebhaftes Interesse wie diese. Etliche kehrten bereits vor Beginn wegen Überfüllung des großen Saals um.
Zur Erinnerung: Der Jurist Gerhard Riege war schon lange vor der Wende in der DDR als unangepasster Kopf einigen ein Ärgernis. Seine Rede zum 40. DDR-Jahrestag in der Universitätsaula stach mit kritischen Worten von der ansonsten tonangebenden Lobhudelei ab. 1990 gewann er die erste freie FSU-Rektorwahl. Der Wahl folgte, so damals der renommierte Giessener Staatsrechtslehrer Helmut Ridder, "die rechtlich unhaltbare Annullierung". Für die PDS zog Riege in Volkskammer und Bundestag, wo ihn hasserfüllte Zwischenrufe, die nach seinem Tod "Der Spiegel" dokumentierte, am Reden hinderten. Schließlich wedelten Medien und Politiker mit einer Stasikarteikarte, die eine von Riege beendete MfS-Verbindung in den 50er Jahren dokumentierten.
"Mir fehlt die Kraft zum Kämpfen und zum Leben. Ich habe Angst vor der Öffentlichkeit, wie sie von den Medien geschaffen wird und gegen die ich mich nicht wehren kann. Ich habe Angst vor dem Haß, der mir im Bundestag entgegenschlägt", schrieb er in seinem Abschiedsbrief bevor er sich im Februar 1992 erhängte.
Der ebenfalls über Bundestagserfahrung verfügende Uwe-Jens Heuer (Berlin), dessen juristischer "Gorbatschowismus" bereits vor dem Untergang der DDR in der alten BRD Aufsehen erregt hatte, sprach über die Persönlichkeit der Politiker. In theoretisch tiefschürfender Rundschau beleuchtete er auch die Leerstelle im Marxismus: Abgesehen von der oberflächlichen Diskussion des "Personenkults" um Stalin fand eine Erörterung der Rolle der Persönlichkeit nicht statt. Heuers Demokratiegebot eingedenk des Zwangs für Politiker zu Machtgewinn und Selbstdarstellung: "dass man sie nicht mit Ihresgleichen allein lassen darf", Intellektuelle und Medien seien unentbehrliches Korrektiv - wohl auch in Stunden der Not.
Roland Meister (Jena) durchbrach als einziger die merkwürdige Zurückhaltung einstiger Jenaer Kollegen Rieges und hob dessen theoretische Ketzereien hervor: Dieser habe sich gegen "das Unwort von der Erziehung unserer Bürger", das diese vom Subjekt zum Objekt degradierte, gewandt und die Sinnlosigkeit des Geschwafels von der "weiteren Vervollkommnung der sozialistischen Demokratie" angeprangert. Bereits 1982 habe er gegen das Verkleistern der Widersprüche zwischen individuellen und staatlichen Interessen gemahnt, dass diese, statt harmonisiert zu werden, sich bis zur Feindschaft steigern könnten.
Der Rechtsphilosoph Hermann Klenner (Berlin), auch heute international respektierter, wohl bekanntester DDR-Jurist, faszinierte mit druckreif, ohne Manuskript vorgetragenen Reflexionen über Recht zwischen Moral und Macht. Nachgeborene, die schnell über die Stellung Älterer in den Systemen der Vergangenheit richten, erinnerte er rhetorisch brilliant im Hinblick auf "Turnschuhminister, die Knobelbecherminister geworden sind" daran, dass momentan in einem völkerrechtlich fragwürdigen Krieg "wir Mitmacher, Angepaßte sind". Klenner, der wegen seiner Ketzereien in der in der DDR vom Hochschullehrer zum Dorfbürgermeister befördert worden war, bekannte, wie Riege den Ausweg des "Freiheitstods" erwogen zu haben, und zwar eher vor der Wende 1989 als danach: Sein Parteigenosse Ulbricht habe ihn mehr als sein Gegner Adenauer in Verzweifelung getrieben.
Das traf sich mit dem Plädoyer Olaf Werners (Jena), "dieses Ereignis zum Anlaß zu nehmen, nachdenklich zu werden" und eigene Mitschuld zu bedenken. So frage er sich, ob er die Beschleunigung des Vertragsschlusses für Rieges weitere Lehrtätigkeit versäumt habe (beim Tod hätten nach Prüfung der Stasivorwürfe die "Verträge zur Unterschrift bereit gelegen"). Fehlte es am Beistand Nahestehender? Werner erinnerte auch die zum Gedenken erschienene PDS-Bundesvorsitzende an "Turbulenzen am Vorabend des Freitods in einer Parteiveranstaltung in Erfurt". Werner bestritt, dass "hasserfüllte Intoleranz" (Einladungstext) zum Freitod geführt habe. Bei einem Systemwechsel "andersherum" würde er, der westdeutsche Werner, kaum Parlamentsmandat und Lehrbefugnis bekommen haben. Die (un)heimliche Kontroverse im Saal machte die noch nicht verheilten Verletzungen der Vergangenheit wieder sichtbar. In der Riege-Todesanzeige Ende Februar 1992 vermied man das Entweder-Oder, eignes Agieren und fremdes Reagieren berücksichtigend: "Er trug an der Last der Vergangenheit. Er zerbrach an der hasserfüllten Gegenwart."  


Über den Markt der Gewalt

Jena. (tlz-17.02.2002) Erhard Eppler, war einst bekannt als Bundesminister, SPD-Präsidiumsmitglied, Mitverfasser des SED/SPD-Debattenpapiers - vor zwei Jahrzehnten sprach er in Bonn vor 300 000 Friedensdemonstranten. Enttäuschung war ihm anzumerken, dass zu seinem Vortrag vergangenen Samstag in Jena gerade mal zwei Dutzend Besuc her die Neue Mitte eines feudalen Hotelsaals füllten .

Eppler fragte, ob wir Zeugen einer Entwicklung  - so der Titel seines neuen Buchs - "Vom Gewaltmonopol zum Gewaltmarkt?"- sind. Sein Vortrag behandelte Privatisierung und Kommerzialisierung von Gewalt. Staaten verlören im Zeitalter der Globalisierung immer mehr ihre Ordnungsfunktion, stattdessen gelte das Faustrecht des ökonomisch bzw. bewaffnet Stärkeren. Dies sei auch eine "Folge der neoliberalen Ideologie. 'Den Staat müssen wir aushungern'". Eppler, flehend: "Finanzminister aller Länder, (ver-)einigt Euch über Mindeststeuersätze gegen Kapitalflucht."

Die Welt fürchte heute weniger, dass Russland auf den Atomwaffenknopf drücke, sondern eher, dass es seine Atomwaffen nicht mehr bewachen könne und Mafiosi oder Terroristen sie stehlen würden.

In Afrika existiere de facto schon ein Viertel der Staaten nicht mehr, und in den Metropolen wucherten Slums, in denen die Polizei nichts mehr zu sagen habe. In den USA, so der Süddeutsche Eppler, wohnten schon so viele Einwohner, wie Baden-Württemberg zählt, in "gated communities". In  "bewachten Gemeinschaft en'", die, eingemauert und mit Stacheldraht umzäunt, von privaten Sicherheitsdiensten bewacht werden, von den  Einwohner bezahlt . Während in Deutschland noch ein Verhältnis von 1 zu 1 zwischen Polizei und privaten Sicherheitsbediensteten herrsche, gebe es in den USA bereits deutlich mehr Sicherheitsgewerbe als Polizei. Oben bei den Reichen und unten bei den Armen gelte dann das staatliche Gewaltmonopol schon nicht mehr - nur noch für die Mitte der Gesellschaft.

Sicherheit bald nur noch für die, die sie sich leisten können?

Sorge bereitet Eppler auch die "asymmetrische Kriegsführung", die sich schon im Golfkrieg 1991 gezeigt habe: Auf einen toten US-Soldaten kamen 600 tote Irakis. In solcher Konstellation gedeihe der Terror, das Verlangen, "die Kraft der Supermacht zu umgehen und sie an ihren verwundbaren Stellen zu treffen" Statt mit dem Pappschwert gegen ferngesteuerte Mittelstreckenraketen - mit Teppichmessern und Zivilflugzeugen gegen die Symbole militärischer und ökonomischer Supermacht. Ein neuer Irak-Krieg, gegen den sich Eppler „ein Europa" wünschte, "das nicht kuscht“, würde diese verhängnisvolle Entwicklung nur noch steigern. Für Eppler lautet die Aufgabe der Linken: „Es geht jetzt darum, das staatliche Gewaltmonopol in den einzelnen Staaten mit Zähnen und Klausen zu verteidigen“ und sich der Verschrottung des Völkerrechts zugunsten von mehr innen- als außenpolitisch begründeten Interventionsgelüsten zu widersetzen.


Nazi-Richter Roland Freisler:
Studium und Promotion in Jena

Jena. (tlz-24.10.2002) Robert Havemann war eines seiner Opfer. 1943 verurteilte Roland Freisler, Vorsitzender des Nazi-Volksgerichtshofs (VGH) ihn zum Tode; weil er geheime Forschungen für die Wehrmacht ausführte, kam es nicht zur Hinrichtung. Ausgebildet wurde der furchtbare Jurist Freisler in Jena, woran jetzt [Montag] der Heidelberger Professor Klaus-Peter Schroeder in einem Vortrag erinnerte. 1912 begann Freisler in Jena Jura zu studieren, nach dem Weltkrieg wurde er Anfang der 20er Jahre in Jena zum Doktor promoviert.

1924 trat er der NSDAP bei. Als 1933 die Nazis an die Macht kamen, wechselte er ins Justizministerium. Für das Reichsjustizministerium nahm er 1942 an der Wannsee-Konferenz teil, auf der die "Endlösung" der Judenermordung beschlossen wurde. Im selben Jahr wurde er VGH-Präsident. Dieses Sondergericht schufen die Nazis 1934 nach dem Freispruch des Kommunistenführers Dimitrof im Reichstagsbrand-Prozess vor dem Reichsgericht in Leipzig. Den Großinquisitor des 1000jährigen Reichs titulieren sogar NS-Kollegen als "rasenden Roland". In Anspielung auf einen Ausspruch des Sozialdemokraten Gustav Noske, der 1919 Novemberrevolutionäre niederschießen ließ, schrieb Freisler in einem Brief kurz vor seiner Ernennung: "Einer wird ja der Bluthund sein müssen". 1945 - inzwischen war jedes zweite VGH-Urteil ein Todesurteil - tötete ein Bombensplitter alliierter Luftangriffe jenen "Richter Gnadenlos" bei dem Versuch, den Luftschutzkeller zu erreichen.

1935 war die Schrift des Jenaer Professors Hedemann über "Bodenrecht und neue Zeit" mit Widmung an Freisler erschienen: "Ein Gruss aus Jena". Freislers Witwe Marion, die erst unlängst verstarb, erhielt eine Kriegsopferrente, mit der sogar entschädigt wurde, welche Karriere der Blutrichter in der Bundesrepublik, in der kein einziger Richter der NS-Zeit verurteilt wurde, hätte machen können.. 


Superstar: Hinrichtung einer Thüringerin

(tlz-03.12.2002) Wir rümpfen die Nase über unzivilisierte alte Zeiten, gaffen aber in öffentliche TV-Hinrichtungen und Zirkusarenen, in denen Menschen zerfleischt werden. Nur Outfit und Techniken sind anders inzwischen. Die neue RTL-Show "Superstar" spielt mit der Sehnsucht sich perspektivlos fühlender und auf schnelles Geld getrimmter Jugendlicher, die in Neufünfland längst dem Motto Go West folgen.

Nun strandete eine TV-Quotenossi aus Tröbnitz mit dem Popstarkarriere-Traum beim Kölner Sender. Auf dem falschen Weg zu Geld und öffentlicher Anerkennung. Heuchlerisch wird es, wenn dieselben Leute, die das Tratsch-und-Zotenbuch von Dieter Bohlen an die Spitzen der Bestsellerliste hievten, nun Mitleid mit der im Jugendorchester Trompete spielenden Friseuse empfinden, die als Madonna-Verschnitt vom Dorfe auftrat und von Bohlen mit "Du hast gesungen wie die Mutter von Madonna" niedergemacht wurde. Auf der offiziellen RTL-Homepage hat sie nun die Ehre, dass ihr Gesicht mit einem dicken, roten X durchgestrichen abgebildet wird. Sogar die Möglichkeit öffentlicher Gegenwehr wird den Hinrichtungskandidaten per Knebelvertrag genommen: "Alle Informationen im Zusammenhang mit der Produktion und deren Vorbereitung sind streng vertraulich zu behandeln und nicht an Dritte weiterzugeben. Sollte sich die Presse mit mir in Verbindung setzen, verpflichte ich mich diese an die Presseabteilung von RTL, Telefon: 0221/456 4205, zu verweisen und keine unabgesprochenen Aussagen gegenüber der Presse zu tätigen."

Trotzdem zwängen Übergewichtige sich in Stretchhosen, Hosenträger-Fetischisten probieren es mit einem Ötzi-Song und untalentierte Selbstdarsteller kokettieren mit der Goldenen Schallplatte, derart die Beleidigungslust der Jury anstachelnd. Soweit die Casting-Gierigen (16 bis 28-jährige werden angesprochen) nicht volljährig sind, könnte man vom Missbrauch Minderjähriger sprechen - für einen Mobilfunkanbieter, die Promotion Bohlens und die Einschaltquoten eines Privatsenders.

Während die Gewalt, die gegen Menschen ausgeübt wird, in den fiktionalen Produktionen gespielt und mitunter auch bei RTL angemessen inszeniert ist, wird sie hier in verbaler Form gnadenlos und ohne Aussicht auf Rettung ausgeübt, kommentierte die Frankfurter Allgemeine Zeitung unter der Überschrift "Was RTL bei der Jugend anrichtet". Und keine Medienanstalt, die aus Jugendschutzgründen einschritte. Wie man die Jugend verdirbt, wie man sich auf ihre Kosten lustig macht, wie man sie als Schmiermittel für eine billige Show missbraucht - das alles finden wir hier, so die FAZ, die RTL auf der Rückkehr zur Tutti-Frutti-Zeiten sieht: Dabei waren die Entblößungen dort noch harmlos im Vergleich zu den Obszönitäten von heute.


Uwe-Jens Heuer: Recht ist keine Magd der Politik
Buch eines Juristen in Ost und West

(tlz-19.12.2002) "Keine Beichte, kein Aufdecken von Geheimnissen, aber ein offenes und
ehrliches Buch." So die Werbung des Nomos-Verlags, der zum größten deutschen Juristenverlag gehört, für die Memoiren des Juristen Uwe-Jens Heuer, die unter dem Titel "Im Streit - Ein Jurist in zwei deutschen Staaten" erschienen. Im Thüringer Forum stellte Heuer jetzt sein Buch vor.

1956 kam aus Jena ein Gutachten zur Doktorarbeit, in dem er als zu aufmüpfig abgekanzelt wurde. Später kooperierte Heuer im Wirtschaftsrecht mit Hans-Ulrich Hochbaum von der FSU, während der Jenaer Professor Gerhard Haney, der den DDR-Staat verklärte, für den auf Verrechtlichung und Demokratisierung des Zentralismus drängenden Heuer ein theoretischer Gegner war. Während der Entstalinisierung Ende der 50-er Jahre ging Heuer zusammen mit dem Rechtsphilosophen Hermann Klenner und dem Völkerrechtler Bernd Graefrath "zu weit". Die "Revisionisten-Gruppe" wurde per "Parteistrafe" vorübergehend aus dem Wissenschaftsbetrieb entfernt. Anfang 1968 nannte "Der Spiegel" Heuer zusammen mit Christa Wolf als Gegenelite zur DDR-Führungsclique. In einer Reformkommission schmuggelt er aus dem BRD-Grundgesetz eine Formulierung in Artikel 108 der DDR-Verfassung ein.

Die Wende 1989 erlebte Reisekader Heuer in USA, danach begab er sich als Seiteneinsteiger in die Politik und gehörte Volkskammer und Bundestag an. Interessant sein Gespräch 1995 mit Altbundeskanzler Schmidt über Ost/West-Aussöhnung. Vor und nach 1989 kämpfte Heuer dagegen, Recht zur Magd der Politik zu erniedrigen, statt es zu deren Zähmung einzusetzen.

Selbstkritisches zu diesem stets gefährdeten Verhältnis wäre zu lernen für deutsche, Jenaer Juristen, die sich im letzten Jahrhundert in verschiedenen Systemen vergaloppiert haben - aber von heutigen Studiosi, die nur hingehen, wohin Professoren sie schicken, ward im Haus auf der Mauer keiner gesichtet.


Der "Partisanenprofessor im Land der Mitläufer"
Wolfgang Abendroth floh 1948 aus Jena und ging in den Westen

Jena. (tlz-09.06.2001) Im Vorlesungsverzeichnis der Jenaer Universität, das seit Anfang der 90er Jahre über mehrere Seiten an „Namhafte Hochschullehrer und Studenten“ erinnerte, sucht man den Namen Wolfgang Abendroth vergebens. „Die schlimmste Belastung, welche man an der Universität und unter Intellektuellen in jener Zeit mit sich herumtrug, war die, gegen den Faschismus gekämpft zu haben.“ Die 50er, nicht die 90er Jahre der BRD meinte allerdings Abendroth, der nach Folter, Zuchthaus und Strafbataillon 999 bei den Nazis 1948 in Jena Professor des öffentlichen Rechts wurde, als er mit jenen bitteren Worten erklärte, warum er zeitweise als Unperson galt. Der undogmatische Marxist, verdächtig als „Westemigrant“, KPD-Renegat und Sozialdemokrat, floh in der Nacht auf den 9. Dezember 1948 aus Jena in den Westen, um sich einer Verhaftung durch den sowjetischen Geheimdienst zu entziehen. Mit dem (falschen) Etikett „pseudomarxistischer Trotzkist“ wurde er 1949 von einem führenden DDR-Juristen tabuisiert.

An diesen in Ost und West unbequemen, in der alten Bundesrepublik zeitweise einflußreichen Intellektuellen, zu dessen Schülern neben vielen Gewerkschaftsfunktionären „Lindenstraße“-Regisseur Geißendörfer genauso wie Finanzminister Eichel gehören, erinnerte beim Thüringer Forum Politologieprofessor Frank Deppe. Ein vorzüglicher Kenner: Nachfolger Abendroths an der Universität Marburg 1972 – und Trauerredner bei der Beerdigung Abendroths 1985.

„Wir haben in Jena in den achtziger Jahren versucht, diese Dinge zu bewältigen“, so einleitend der Historiker Manfred Weißbecker. Der Vorsitzende des Thüringer Forums verriet, dass man Abendroth die Ehrendoktorwürde angetragen habe, jedoch sei diese „mit Verweis auf hanseatischen Stolz“ abgelehnt worden.

Deppe schilderte den 1906 geborenen Abendroth als politisch Engagierten, „der es geschafft hat, aus allen Organisationen ausgeschlossen zu werden“, und der dennoch Vermittler zwischen den Positionen blieb. Aus der KPD flog er als „Rechter“, der zur KPD/Opposition gehörte, welche den sektiererischen Antifaschismus vor 1933 kritisierte; Widerstand gegen die Nazis leistete er in der Gruppe „Neu Beginnen“;  aus der sich verbürgerlichenden Nachkriegs-SPD wurde er wegen Unterstützung sozialistischer Studenten ausgeschlossen. Als Hochschullehrer förderte er Doktorarbeiten über Zwischengruppen, Abspaltungen und Neugründungen, in denen kritisches Denken und Realitätserkenntnis jenseits der Großorganisationen von KPD und SPD lebendig geblieben war. Starphilosoph Jürgen Habermas, habilitiert bei Abendroth, nannte ihn in einem „Zeit“-Artikel einen „Partisanenprofessor im Land der Mitläufer“, dabei auf jugoslawische Hochschullehrer, anspielend, die auch als Ex-Partisanen ohne professoralen Dünkel, unerschrocken gegenüber der Macht und solidarisch handelnd blieben. 

Wolfgang ABENDROTHDemokratie und Sozialismus wollte Abendroth, der erste und bis in die siebziger Jahre einzige Marxist auf bundesdeutschen Lehrstühlen, nicht trennen. 1963 schrieb er der BRD-Linken ins Stammbuch, sie könne „nicht darauf verzichten, im Interesse der Bevölkerung der DDR an deren Herrschaftsformen Kritik zu üben und für sie Demokratisierung und Wiederherstellung der Freiheitsrechte zu verlangen, weil sie sonst im eigenen Staate unglaubhaft würde“. Der prominente Kämpfer gegen Remilitarisierung und Notstandsgesetze, so Deppe, habe keiner Fliege etwas zuleide tun können  - zum Entsetzen seiner Familie: „In seinem Haus durfte keine Fliege totgeschlagen werden, sondern wurde umständlich herausbugsiert.“

Als Jurist, immerhin Mitgründer der Staatsrechtslehrervereinigung sowie Verfassungsrichter in Bremen und Hessen, trat Abendroth einerseits gegen linken Rechtsnihilismus und opportunistischen Umgang mit dem Recht auf, andererseits widersprach er Umdeutungen der Verfassung in eine Garantie des kapitalistischen Status quo, darauf bestehend, dass die demokratischen und sozialstaatlichen Möglichkeiten des Grundgesetzes längst nicht ausgeschöpft seien. Er verkörperte wie kein anderer das Streben nach politischer und theoretischer Erneuerung angesichts der Niederlagen gegenüber dem Nationalsozialismus und bei den Umgestaltungsversuchen nach Kriegsende. Aber sogar an seiner Wirkungsstätte Marburg sei er heutigen Studenten oft unbekannt. Dennoch hoffte Deppe, den Schlußsatz von Abendroths 1962 erschienener „Bilanz der sozialistischen Idee in der Bundesrepublik Deutschland“ zitierend, „daß die gegenwärtige Ausschaltung sozialistischen Denkens in Deutschland genauso überwindbar sein wird wie seine Ausschaltung zwischen 1933 und 1945.“ Besserwissereien und Alleinvertretungsansprüche in SPD und PDS registrierend, unterstrich Weißbecker abschließend Abendroth Aktualität: Dessen „Brückenbauen“ sei nach wie vor besser als die „Verkündung von Monopolansprüchen“.


Sternstunden des Lyssenkoismus an der Salana
Düsteres Kapitel in der Universitätsgeschichte wurde vor nur wenig Publikum beleuchtet

Jena. (tlz-05.04.2001) Sozialdarwinismus, Rassismus, Eugenik, Euthanasie oder Lyssenkoismus – „immer wieder ist irgendwo Jena präsent“ wenn es um besonders extremes Denken im deutschen Geistesleben ging, seufzte Uwe Hoßfeld nach der Diskussion seines Vortrags über einen Biologenstreit an der Jenaer Nachkriegsuniversität.

Der wissenschaftlicher Mitarbeiter am Ernst-Haeckel-Haus referierte innerhalb der Vortragsreihe "Zur Universitätsgeschichte im 19./20. Jahrhundert", die dienstags am Historischen Institut stattfindet. Leider bei Desinteresse der Universitätsöffentlichkeit, so dass man zweifelt, ob es wirklich eine Erfolgsmeldung ist, wenn berichtet wird, Jenaer Studenten absolvierten ihr Studium am zügigsten – nämlich ohne Blick zur Seite oder zurück in die Geschichte, könnte hinzugefügt werden.

Trofim Lyssenko („Zitronen in Sibirien“), der zugunsten von Umwelteinflüssen meinte im von Hungersnöten geplagten Sowjetreich die „bürgerlichen“ Vererbungsgesetze außer Kraft setzen zu können, gilt als der Biologe der stalinschen Ära, wenngleich die Zusammenhänge komplizierter sind, gehörte doch auch der Entstalinisierer Chruschtschow noch zu seinen Förderern.

Hoßfeld untersuchte das SBZ/DDR-Echo auf diese Sowjetbiologie, deren Gegner in der UdSSR im GuLAG landeten oder, wie der berühmte Genetiker Wawilow, zum Tode verurteilt wurden. 

Unerwähnt liess Hoßfeld, dass auch kritische DDR-Intellektuelle wie Ernst Bloch, Robert Havemann oder Bert Brecht („Die Erziehung der Hirse“) sich zu Lyssenko bekannnten. Vorgestellt wurde insbesondere der Sekretär der Thüringer KPD 1945/46, spätere Direktor des Haeckel-Hauses und Biologieprofessor Georg Schneider, nach dem bis Anfang der 90-er Jahre in Lobeda-Ost die Carolinenstraße benannt war. Er war der Propagandist des Lyssenko-Voluntarismus, wobei in Jena – bis in die Wissenschaftliche Zeitschrift der FSU – parallel eine seriöse Biologie vertreten wurde. Das Verdienst Schneiders, die von Julius Schaxel gegründete, von den Nationalsozialisten 1933 verbotene populärwissenschaftliche Zeitschrift „Urania“ 1947 wiederbelebt zu haben, verschwieg der Referent nicht, der ansonsten Merkwürdiges berichtete: So sei Schneider Tage vor Wiedereröffnung der Jenaer Universität promoviert worden, jedoch sei seine Doktorarbeit nicht greifbar; eine Habilitationsschrift habe er selber zurückgezogen und wurde erst 1951 zum Professor ernannt. Im UdSSR-Exil habe er jedoch das Werk von I. I. Schmalhausen „Die Evolutionsfaktoren“ aus dem Russischen übersetzt, redigiert von Otto Schwarz, dem späteren kommunistischen Unirektor, der seinerzeit noch in Kriegsforschungen Nazi-Deutschlands verstrickt war. Nach Hoßfelds Ansicht eines der bedeutendsten evolutionstheoretischen Werke des Jahrhunderts, und wenige Jahre später propagieren diese in Jena die zu Schmalhausen konträr stehende „proletarische Wissenschaft“ Lyssenkos.

Die letzte Merkwürdigkeit: 1970 starb der Vorsitzende des Bezirks Gera der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft Georg Schneider, als er, zwei Unidozenten mit in den Tod reißend, alkoholisiert  im Mühltal auf ein Fahrzeug auffuhr, das bei Isserstedt unbeleuchtet aus einer Seitenstraße kam – ein Sowjetpanzer.


Als Manfred Stolpe noch ein Rebell in Jena war

Jena. (tlz-27.02.2001) Der heutige Ministerpräsident Brandenburgs muss schon als Jurastudent in Jena in der zweiten Hälfte der 50-er Jahre Charisma gehabt haben: "Es gab Zeiten, wo alle parteilosen Studenten des Studienjahres von Stolpe fasziniert waren." 

So steht es im Bericht eines SED-Parteisekretärs. Manfred Stolpe wurde innerhalb seiner Kommilitonen offenbar "von der Masse als derjenige angesehen, der offen das ausspricht, was die meisten denken, sich aber nicht zu sagen getrauen". 

Auf diese Aussagen verwies der Historiker Werner Fritsch bei der Vorstellung der von ihm zusammen mit Werner Nöckel erarbeiteten Broschüre über "Antistalinistische Opposition an der Universität Jena 1965-58" (TLZ-Bericht vom 22. Februar). Die in jener Veröffentlichung dokumentierte Charakterisierung Stolpes, der von 1955 bis 1959 auf Empfehlung des Greifswalder Konsistoriums an der Friedrich-Schiller-Universität Jura studiert hat, findet man im Bericht des stellvertretenden SED-Parteisekretärs der Grundorganisation Juristen vom 9. November 1958 an die Kreisdienststelle Jena des Ministeriums für Staatssicherheit. 

Fritsch hob diese Einschätzung hervor, weil vor einigen Jahren der (dann entlassene) Stadtchronist Jenas durch Dokumentenfälschung und mit Hilfe des von der "FAZ" zur "Bild"-Zeitung gewechselten Herausgebers der Goebbels-Tagebücher versucht hatte, den jungen Stolpe als angepassten, linientreuen Studenten darzustellen. 

Auch der MfS-Offizier Klaus Roßberg, der dienstlich mit den späteren Stasikontakten des Kirchenmanns Stolpe befasst war, hatte im "Spiegel" 1996 behauptet, Unterlagen Stolpes Jenaer Zeit "vermittelten das Bild eines positiv zur DDR stehenden jungen Menschen". 

Unerwähnt blieb dabei Stolpes Renitenz, über die nun in der neuen Veröffentlichung nachzulesen ist. Da berichtete der Parteisekretär der Stasi, "Stolpe selbst konnte erst zur Ruhe gebracht werden, als ich ihm vor allen Studenten des Studienjahres klipp und klar erklärte, er und einige andere spielten objektiv die Rolle von Konterrevolutionären und müssten bei Fortsetzung ihres Verhaltens von uns als solcher behandelt werden". Aber trotz dieses Einschüchterungsversuchs: "Stolpe zu isolieren, ist uns damals nicht gelungen", klagt der Parteisekretär, denn weiterhin "wiederholte Stolpe schon vorher gemachte Äußerungen", und er habe sich gar erdreistet zu behaupten, "die FDJ sei ein lahmer Haufen und solle sich ein Beispiel an der Evangelischen Studentengemeinde nehmen". 

In einem arbeitsrechtlichen Seminar, in dem eigentlich "nachzuweisen" gewesen wäre, "dass unbedingte Parteilichkeit für die Arbeiterklasse für einen Juristen der DDR Grundvoraussetzung ist", da habe Manfred Stolpe "plötzlich" vorlaut gefragt, "wie sich der Verfassungsgrundsatz von der Unabhängigkeit des Richters" damit vertrage. 


Riege, Schmutzer, Zehm und andere "Parteifeinde"

Jena. (tlz -21.02.2001) "Zwischen Ibrahim und Zehm gibt es ganz andere Welten", kritisierte Jürgen Haschke, Landesbeauftragter für die Stasiunterlagen, Jenaer Debatten, als er Werner Fritsch und Werner Nöckel vorstellte, die mit ihrer Broschüre "Antistalinistische Opposition an der Universität Jena (1956-58)" ein anderes Kapitel der Vergangenheit aufschlugen. Die aktuelle Debatte um den wegen Veröffentlichungen im Dunstkreis von Rechtsextremisten umstrittenen Philosophie-Honorarprofessor Günter Zehm überlagerte die Veranstaltung, in deren Zentrum eigentlich Werner Nöckel stehen sollte. Er war zu Zeiten der Entstalinisierung 2. SED-Parteisekretär bei den Universitätshistorikern und wurde 1958 vom Bezirksgericht Gera "wegen schwerer staatsgefährdender Hetze und Propaganda" zu dreieinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt, Ende 1960 wurde er amnestiert und erlebte sodann die DDR nach einem weiteren Studium als Ingenieur für Eisenbahn- und Brückenbau. Nach Einsicht in seine Stasiakten, so Nöckel, erkrankte er psychisch und schrieb seine Erlebnisse nieder. Eine literarische Selbsttherapie nach dem Motto "Die Wahrheit wird euch frei machen". 

Werner Fritsch, wie Nöckel seinerzeit Geschichtsstudent und in den Auseinandersetzungen an der FSU engagiert, überarbeitete das Manuskript, versah es mit einem dreimal so langen Dokumentenanhang (insbesondere SED- und MfS-Materialien) und mit einem die damalige Zeit auslotenden Vorwort. 

Weil die Autoren sich außerstande sahen, die Auseinandersetzungen bei den Historikern isoliert darzustellen, ist ihnen ein spannendes Stück Universitätsgeschichte gelungen. Gleichzeitig verdeutlichen sie, dass ein Großteil antistalinistischer Opposition gerade aus den Reihen der Kommunisten und aus sozialistischen Idealen sich speiste. "Wir gehörten ja dazu", hob Fritsch hervor, den Haschke allzu schnell als DDR-Opfer vereinnahmte, wiewohl er, anders als Nöckel, Dozent und Reisekader wurde. 

Haschke beklagte, dass "wir Barfuß-Historiker" uns dieser Themen annehmen, und rügte ein Desinteresse der Universität an ihrer Vergangenheit: "Wann zum Teufel" würden hierzu Magister- und Doktorarbeiten geschrieben? 

Tatsächlich hat das Autorengespann reichlich Stoff für weitere Arbeiten ausgebreitet. Berichtet wird über Auseinandersetzungen an der Arbeiter-und-Bauern-Fakultät und den "Ölmühle-Kreis", der zerschlagen wurde. Da ist die Kritik an der "revisionistischen Plattform" des Juristen Gerhard Riege - der damals Drangsalierte war nach der Wende 1990 erster Uni-Rektor und nahm sich 1992 das Leben, als er wegen eines Stasikontaktes Anfang der 60er Jahre angegriffen wurde. Da sind die Materialien über einen weiteren von "Barfuß-Historikern" als stasibelastet angeschwärzten und erst viel später entlasteten (TLZ vom 30. Oktober 1998) Uni-Rektor: Über Ernst Schmutzer vermerkte die Jenaer MfS-Kreisdienststelle, er habe "kein Vertrauen in die Partei und zur Regierung" und "so wird er vom passiven Mitglied bald zum Austritt schreiten". 

Viel Material ist schließlich dem damals aus der SED ausgeschlossenen und 1957 wegen "Boykotthetze" zu vier Jahren Zuchthaus verurteilte Zehm gewidmet. "Er war einer, der am weitesten ging mit seiner Kritik", so Fritsch. Haschke verteidigte den Abwesenden gegen die Kritik der Antifa-Hochschulgruppe: "Die sind ja alle bekloppt", und "ohne Zehm könnte sich die Antifa auflösen". Die sollte man "einfach unbeachtet lassen". Da erhob sich ein Herr: "Ich bin Wolfgang Kopitzsch, war damals Parteisekretär, Nöckel war mein Stellvertreter." Er freue sich, dass junge Leute sich heute mit rechter Gefahr beschäftigen, sie verdienten Lob und Ermutigung. Er verwies auf die Anti-NPD-Demo unlängst und wünschte sich, "dass einige derer, die hier sind, auch dort gewesen wären". Kopitzsch taucht auch in Fritschs Quellensammlung als Kritiker auf, der 1956 "innerhalb der Partei zweierlei Demokratie" und im Wissenschaftsbetrieb "stickige Luft" kritisiert habe. Zu der Haftstrafe für Nöckel sagte Kopitzsch der TLZ, dass nach seiner Überzeugung die DDR auch daran kaputt gegangen sei, dass dieser Umgang mit Dissidenz nur gemildert, nicht aber abgeschafft wurde.